1. Einleitung
Die meisten Menschen empfinden das Thema Inkontinenz als unangenehm, weil es intimste Bereiche berührt. Betroffene fühlen Scham, pflegende Angehörige bewegen sich im schwierigen Bereich von Intimität und Würde, und für alle ist sie eine Last. Dass es den Betroffenen peinlich ist, über Intimes zu sprechen, ist verständlich. Allerdings gibt es keinen Grund, sich für Blasen- oder Darmschwäche zu schämen. Angesichts möglicher Hilfen sollte man seine Scheu überwinden und dem Problem rechtzeitig ins Auge sehen, denn im Verlauf der Huntington-Krankheit wird man mit Sicherheit damit konfrontiert werden. Dieses Infoblatt informiert über Ursachen, Maßnahmen und Hilfsmittel und gibt Tipps zur Körperpflege.
2. Formen und Ursachen der Inkontinenz
Der gesunde Mensch kann bewusst bestimmen, wann und wo er Blase und Darm entleeren möchte. Wenn er dies nicht kann, wenn Harn- oder Stuhldrang nicht mehr willentlich gesteuert werden können, wenn es zu unwillkürlichem Verlust von Harn oder Stuhl zu ungelegener Zeit oder an ungelegenem Ort kommt, dann spricht man von Inkontinenz. Dabei unterscheidet man im Wesentlichen zwischen Belastungsinkontinenz, Dranginkontinenz, Überlaufinkontinenz und neurogener Inkontinenz. Die Genannten sowie deren Mischformen beruhen jeweils auf unterschiedlichen Ursachen.
Die Ursache der Belastungsinkontinenz z.B. liegt in einer Schwäche des Blasenschließmuskels oder des Beckenbodens. Mit Belastung ist somit kein psychischer Druck gemeint, sondern eine körperliche Belastung, wie sie unter anderem beim Husten oder Niesen geschieht. Sie beginnt meist in leichter Form mit ein paar gelegentlichen Tropfen oder geringem Harnverlust bei plötzlichem Druckanstieg im Bauchraum, beispielsweise beim vorgenannten Husten, Niesen oder Lachen. Später entsteht vermehrter Harnverlust, insbesondere bei körperlicher Anstrengung wie Treppensteigen oder Heben von Lasten, und schließlich kommt es zu vollständiger Unfähigkeit, den Harndrang zu kontrollieren. Auch Stuhlinkontinenz beginnt zunächst leicht mit unkontrolliertem Abgang von Winden beim Husten, Lachen usw. und mit der Unfähigkeit, zwischen dem Abgang von Winden und dünnem, später auch festem Stuhl zu unterscheiden. Zum Schluss gehen fester Stuhl und Winde unkontrolliert ab.
Dranginkontinenz wiederum beruht auf ungewollter Kontraktion der Blasenmuskeln. Diese entsteht durch altersbedingten Abbau des Gehirns oder neurologische Erkrankung. Dabei kommt es zu einem plötzlichen Urinabgang ohne Vorwarnung, verbunden mit der Unfähigkeit, die Blasenentleerung zu stoppen. So kommt es zu unfreiwilligem Urinverlust, bevor der Betroffene noch rechtzeitig die Toilette aufsuchen könnte. Umgekehrt kann es auch geschehen, dass die Blase schon bei geringer Füllung an das Gehirn Signale sendet, sie sei voll, ohne dass dies der Fall ist. Im Gefühl, dringend zu müssen, drängt der Patient dann ständig unnötigerweise und ergebnislos zur Toilette.
Bei der Überlaufinkontinenz hingegen handelt es sich um eine Entleerungsstörung, bei welcher der Weg des Urins nach außen behindert ist. Dadurch kann die Blase nicht richtig entleert werden, es entsteht mehr und mehr Restharn, die Blase kann diese Menge nicht mehr halten und sie läuft irgendwann über.
Die neurogene Inkontinenz schließlich beruht auf einer Funktionsstörung des Nervensystems. Bei der Blasen- / Darmentleerung geht es um das koordinierte Zusammenspiel bestimmter Nerven des Gehirns, des Rückenmarks, der Blase / des Darms, des Harntrakts, der Nieren sowie der betreffenden Muskeln, insbesondere der Schließmuskeln. Tritt in einer der vorgenannten Schaltstellen eine Störung auf, führt dies zur Inkontinenz. Insofern ist Inkontinenz insgesamt eine der zwangsläufigen Folgen und Symptome der Huntington-Krankheit, denn diese beeinträchtigt zunehmend alle Körperfunktionen.
Wenn ein Betroffener im fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit Blasen- und Darmentleerung nicht mehr alleine zu bewerkstelligen vermag, sind die pflegenden Angehörigen immer wieder gezwungen, helfend einzuspringen. Dies in den Griff zu bekommen kann für viele Familien eine große Herausforderung sein, denn der Erkrankte ist Vernunftgründen meist nicht zugänglich, leidet aber gleichzeitig unter dieser Situation.
3. Maßnahmen
Inkontinenz ist bis zu einem gewissen Grad behandelbar. Diesbezügliche Maßnahmen umfassen unter anderem Blasentraining, Beckenbodenübungen, Ernährungsumstellung und die Einnahme von Medikamenten. Zum Blasentraining gehört das Verstehen des eigenen Harndrangmusters. Als Erstmaßnahme ist die regelmäßige Entleerung der Blase zu empfehlen, damit sie nicht zu voll wird (alle zwei bis drei Stunden, vor jeder Mahlzeit und vor dem Zubettgehen). Auch die Entleerung des Darms sollte zu festgesetzten Zeiten, etwa 12 Stunden nach Einnahme der Hauptmahlzeit, spätestens jeden zweiten Tag stattfinden.
Um den Harndrang besser kontrollieren zu können, kann man die Beckenbodenmuskulatur mit Beckenboden-Übungen stärken. Diese sind leicht zu erlernen und können überall durchgeführt werden. Dazu spannt man die Beckenbodenmuskulatur an, und zwar so, als würde man auf der Toilette den Urinstrahl stoppen. Die Muskeln, die für diesen Vorgang angespannt werden, sind die Beckenbodenmuskeln. Nun hält man diese Muskeln etwa zehn Sekunden lang angespannt. Dies wiederholt man ein paar Mal, und die ganze Übung führt man mehrmals täglich durch. Idealerweise führt man diese Beckenbodenübungen vorbeugend regelmäßig durch, um die Inkontinenz hinauszuzögern.
Menschen mit Inkontinenz trinken häufig viel zu wenig, weil sie befürchten, unabsichtlich einzunässen. Das ist ein Denkfehler. Mangelnde Flüssigkeitszufuhr fördert eine starke Konzentration von Harnstoff und anderen Stoffen im Harn. Dieser Vorgang löst einen gesteigerten Harndrang aus. So paradox es klingt: gerade Menschen mit Blasenschwäche müssen vermehrt trinken. Eine Trinkmenge von 1,5 bis 2 Litern täglich, ballastreiche Kost und so viel Bewegung wie möglich unterstützen die Maßnahmen gegen Inkontinenz.
Manchmal wird es auch als störend empfunden, wegen einer schwachen Blase nachts zur Toilette gehen zu müssen. Um häufiges „Müssen“ während der Nacht zu reduzieren, kann man die Flüssigkeitszufuhr zwei oder drei Stunden vor der Schlafenszeit einstellen, ohne die Gesamtmenge für den Tag zu reduzieren. Zur Unterstützung mit Medikamenten frage man seinen Arzt oder Apotheker.
4. Inkontinenz- Hilfsmittel
Es gibt eine Reihe von Inkontinenz-Hilfsmitteln, die den Betroffenen das Leben mit Harn- oder Stuhlinkontinenz erleichtern können. Um das Geeignete zu finden, ist in jedem Fall eine Beratung notwendig, denn das richtige Hilfsmittel ist von einer Reihe von Faktoren abhängig, zum Beispiel vom Grad der Mobilität bis hin zu den Kosten.
Es gibt im Wesentlichen drei Arten von Hilfsmitteln: aufsaugende (Windeln und Betteinlagen), ableitende (mittels Katheter) und aufsammelnde (mittels Kollektoren). Die beiden letztgenannten Mittel kommen für Huntington-Patienten weniger in Frage, da ihre Funktion über Schläuche und angeschlossene Sammelbehälter voraussetzt, dass sich der Betroffene ruhig verhält. Diese Voraussetzung ist bei Huntington-Patienten eher nicht gegeben. Es bleibt daher der Rückgriff auf körpernahe, aufsaugende Hilfsmittel (Windeln). Diese gibt es als Einmalartikel aus Zellstoff, abgestimmt auf Männer oder Frauen, in den unterschiedlichsten Größen, in unterschiedlicher Saugkapazität, mit oder ohne Zusatzstoffe gegen Geruchsentwicklung und Keimwachstum, als Einlage oder vollständiges Höschen und dergleichen mehr. Wichtige Kriterien sind Undurchlässigkeit und leichte Anwendbarkeit - Letzteres vor allem unter dem Aspekt der motorischen Störungen eines Huntington-Patienten. Wünschenswert ist optische Unauffälligkeit. Diese Auflistung unterstreicht die Bedeutung einer professionellen Beratung.
Für männliche Patienten sei angeführt, dass es sinnvoll sein kann, so lange sie laufen können, die Windel verkehrt herum anzulegen, also das Hintere nach vorne, weil dort das Fassungsvermögen größer ist. Und noch ein Hinweis: Windeln sollten in Anwesenheit des Patienten aus psychologisch naheliegenden Gründen nie „Windeln“ genannt werden. Besser ist es, sie neutral „Unterwäsche“, „Unterhose“ oder Ähnliches zu nennen.
Inkontinenz-Hilfsmittel müssen nicht ausschließlich selbst finanziert werden. Es besteht die Möglichkeit, sich diese vom Arzt verordnen und von der Krankenkasse erstatten zu lassen, gegebenenfalls abzüglich eines Selbstbehalts. Dazu benötigt man ein ärztliches Rezept, auf dem die Notwendigkeit und die Art des Hilfsmittels deklariert sind. Da die Richtlinien von Kasse zu Kasse unterschiedlich sein können, ist es zweckmäßig, sich bei der ersten Bestellung beim zuständigen Sachbearbeiter Auskunft über das Vorgehen, die mögliche Bindung der Kasse an bestimmte Produzenten oder Produkte, sowie die Höhe der Erstattung einzuholen.
5. Körperpflege
Das ständige Tragen von Einlagen gegen Harninkontinenz führt leicht zu Hautirritationen im Genitalbereich, denn die Haut um die Ausscheidungsorgane ist bei Inkontinenten besonderen Belastungen ausgesetzt. Permanenter Kontakt mit Harn, oftmaliges Waschen und das feuchtwarme Klima in diesem Bereich sind ein idealer Nährboden für Bakterien und Pilze. Intensive und richtige Hautpflege kann helfen, schmerzliche Entzündungen zu verhindern.
Empfehlenswert ist es, den empfindlichen Genitalbereich ausschließlich mit Wasser zu waschen, allenfalls unter Verwendung einer ph-neutralen Seife. Danach sollte die Haut durch vorsichtiges Abtupfen getrocknet werden, keinesfalls durch kräftiges Reiben. Anschließendes eincremen mit einer geeigneten Emulsion schützt die Haut. Sofern diese gerötet ist, sollte sie mit einer stark fettenden Salbe (Baby-Creme) eingecremt werden, um erneute Reizung abzuwehren. Es sei daran erinnert, trotzdem ausreichend zu trinken, denn je weniger der Betroffene trinkt, desto konzentrierter und aggressiver ist der Harn. Ausreichende Flüssigkeitszufuhr kann somit beitragen, Hautreizungen vorzubeugen.
6. Beratung
Wer seine Scheu überwindet und über sein Problem sprechen möchte, sollte einen Facharzt (Gynäkologe oder Urologe) konsultieren. Auch die Inkontinenzberatung des Roten Kreuzes oder die Urologischen Abteilungen der Krankenhäuser helfen gezielt. Daneben gibt es landesweit Beratungsstellen spezieller Kontinenz-Organisationen, in denen kompetente Hilfe angeboten wird. Zwei von ihnen sind nachstehend aufgeführt.
Da bei Huntington-Patienten die Ursache der Inkontinenz weitgehend eindeutig ist, bezieht sich die mögliche Hilfe vor allem auf Information über Maßnahmen, Hilfsmittel, Materialien und gegebenenfalls Medikamente. Über die Art und Weise der Beratung kann der Betroffene entscheiden: anonym per Telefon, persönlich in einer Beratungsstelle oder bei sich zu Hause.
7. Fazit
Das Thema Inkontinenz kommt auf einen Huntington-Patienten unausweichlich zu. Der Betroffene wird – in vollem Bewusstsein von Scham und Würde – nach und nach völlig hilflos und kann nichts dagegen tun. Die Angehörigen wechseln umgekehrt, aber mit ähnlichen Gefühlen, zunehmend in die bemutternde Rolle eines Pflegers. Dies gilt auch und speziell für Kinder, die ihre Eltern pflegen müssen. Besonders in den Fällen Sohn-Mutter oder Tochter-Vater können sie rasch an ihre Grenzen von Scham und Scheu stoßen. Die gesamte Problematik ist daher nicht nur medizinisch-pflegerisch schwierig, sondern auch emotional. Für beide Seiten kommt es daher darauf an, das Thema frühzeitig, behutsam und respektvoll anzusprechen und die jeweiligen Vorstellungen, Möglichkeiten und Vorgehensweisen abzuklären. Dies verlangt von allen Beteiligten Offenheit, Ehrlichkeit, Wissen um die krankheitsbedingten Veränderungen und sehr viel Verständnis füreinander. Dabei kann es hilfreich sein, eine fachkundige Person seines Vertrauens hinzuzuziehen, vorzugsweise den behandelnden Arzt oder den Vertreter einer professionellen Inkontinenz-Beratungsstelle. Viele Huntington-Familien standen oder stehen vor diesem Problem und haben es gemeistert.
8. Weiterführende Information
- Zum Huntington-Ratgeber - dem kostenlosen Handbuch für den Umgang mit der Huntington-Krankheit - klicken Sie hier auf RATGEBER
- Zur Information über den Erwerb des Euro-Schlüssels für Behinderten-WC klicken Sie hier auf SCHLÜSSEL
9. Hilfreiche Adressen
Medizinische Kontinenzgesellschaft Österreich
Schwarzspanierstr. 15/3/1
1090 Wien
Tel. & Fax: +43(0)1- 40 20 928
E-Mail: info@kontinenzgesellschaft.at
Internet: www.kontinenzgesellschaft.at
Deutsche Kontinenz Gesellschaft e. V.
Friedrichstrasse 15
60323 Frankfurt
Telefon: 069 - 795 88 393
Telefax: 069 - 795 88 383
E-Mail: info@kontinenz-gesellschaft.de
Internet: www.kontinenz-gesellschaft.de
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Autor: Ekkehart Brückner Stand: Oktober 2019