Herausforderung  für  die  ganze  Familie

Auswirkungen der Huntington-Krankheit auf das gesamte Gefüge einer Familie

(Beitrag von Christian Gerken, DHH)


1. Einleitung

 

Wie kaum eine andere Erkrankung trifft die Huntington-Krankheit die gesamte Familie eines Betroffenen. Die mit ihr einhergehenden Veränderungen beeinflussen das gesamte familiäre Gefüge sowie die Interaktionen innerhalb einer Familie. Darüber hinaus kann auch die weitere Verwandtschaft mit der Erkrankung oder ihren Auswirkungen konfrontiert sein, weil ihre Ursache in den Genen liegt. In diesem Verständnis ist die Huntington-Krankheit eine klassische Familienerkrankung.

 

Vor diesem Hintergrund erläutert dieses Infoblatt einige wichtige Aspekte. Es kann jedoch nicht alle möglichen Konstellationen beschreiben und darauf eingehen, denn jede Person und jede Familie ist verschieden, geht in unterschiedlichem Maße damit um oder reagiert darauf anders. Daher gibt es keine Ratschläge, die zu 100 Prozent auf eine individuelle Situation zutreffen. Zudem ersetzt dieses Infoblatt keine Beratung und soll nicht davon abhalten, sich in schweren Lebenssituationen Hilfe durch Huntington-Experten oder Fachärzte zu holen.

 

2. Betroffene und Angehörige

 

Für Betroffene und deren Angehörige ist es schon schwer genug, die Huntington-Krankheit zu erleben und sich mit den Auswirkungen zu arrangieren, denn es kommt zwangsläufig zu Veränderungen des familiären Zusammenlebens.

 

So wissen wir, dass durch die fortschreitenden Veränderungen insbesondere der direkte Partner sowie etwaige Kinder eine Schlüsselposition besitzen und in erheblichem Maße mit betroffen sein können, weil sie den vielfältigen, immer wieder wechselnden oder neuen Herausforderungen gerecht werden müssen. Die Belastungssituation wird auch daran deutlich, dass aufgrund des sozialen und gesellschaftlichen Stigmas bei kaum einer anderen genetischen Erkrankung ein solch ausgeprägtes Stillschweigen besteht, auch gegenüber anderen Angehörigen. Insofern ist die Stellung innerhalb der Gesellschaft in Gefahr, und die Suche nach professionellen Ansprechpartnern und -stellen bedeutet für die Familienmitglieder oft eine zusätzliche Belastung.

 

Weitere Probleme entstehen, wenn im Rahmen der Krankheitsprozesse oder der Verarbeitung der Erkrankung Aggressionen auftreten. Zur Verarbeitung solcher Phasen, um diese zu überstehen und sich dabei selber nicht zu überlasten, gehört eine gehörige Portion Vertrauen, Liebe, Information und Verständnis. Nicht immer gelingt es den Familien, die verschiedenen Phasen der Erkrankung heil zu überstehen. Zerrüttete Familienverhältnisse, Isolation, Zwiespalt, Angst und Stress sind bei den Betroffenen und den Familienangehörigen nicht selten anzutreffen. Dass dies dem Verlauf der Erkrankung nicht guttut, liegt auf der Hand.

 

2.1 Wie kommt es zu diesen Verhältnissen und Zuständen?

 

Der Verlauf der Huntington-Krankheit ändert zwangsläufig die Struktur einer betroffenen Familie. Motorische, kognitive und psychische Leistungseinbußen lassen häufig nicht nur zwischenmenschliche Konflikte wie Streitigkeiten, Missmut, Trennungen usw. entstehen. Sie führen bei den unterschiedlichen Mitgliedern der Familie auch zu den verschiedenartigsten Reaktionen: Isolation, Abspaltung von der Familie, Alkoholmissbrauch, auch Flucht in scheinbar sichere Strukturen wie Arbeit und damit einhergehende Arbeitswut (Workaholic) oder Verleugnung und Verweigerung.

 

2.2. Auswirkungen der Erkrankung selbst

 

Wir wissen, dass es Faktoren des Krankheitsbildes selbst sind, die dazu führen, dass es zu innerfamiliären Problemen und Auseinandersetzungen kommt. Insbesondere die emotionalen Veränderung des Betroffenen, die Auswirkungen der Erkrankung auf Denken, Handeln und Problemlösungsfähigkeit, aber auch die psychischen Auswirkungen stellen hohe Anforderungen an den Erkrankten und seine Familie.

 

Gerade durch das enge Band der Familie kommt es häufig dazu, dass in erster Linie die unmittelbaren Angehörigen die Auswirkungen zu spüren bekommen. Die Umwelt und weitere Angehörige bekommen am Anfang oft überhaupt nichts davon mit.

 

3. Die Familie eines Betroffenen

 

Befassen wir uns zuerst mit der direkten Familie eines Betroffenen, also dem Partner und eventuellen Kindern. Häufig sind es diese Mitglieder der Familie, denen die ersten Anzeichen oder Symptome der Erkrankung auffallen. Anfangs noch unscheinbar und nicht zweifelsfrei zuzuordnen schleicht sich mehr und mehr die Huntington-Krankheit in das Leben. Sind innerhalb der Familie Erfahrungen durch erkrankte Angehörige vorhanden, z.B. durch die eigenen Eltern, Schwiegereltern, Großeltern oder Geschwister, fällt eine Zuordnung vielfach leichter. Doch insgesamt lässt sich festhalten, dass dieses Wissen, diese immer mehr zur Gewissheit werdende Vermutung, selbst wenn innerhalb der Familie die Erkrankung bekannt ist, ein großer Schock sein und sehr unterschiedliche Emotionen hervorrufen kann.

 

Zahlreiche Lektüre weist uns den Weg, die Krankheit zu verstehen, Veränderungen zu erklären und mit ihnen umgehen zu können. Insbesondere die Themenschwerpunkte der Deutschen Huntington-Hilfe sowie Beiträge auf den Seiten von HDYO erläutern viele Aspekte der Erkrankung in verständlicher Form und geben zahlreiche Tipps und Hilfen an die Hand. Setzt sich ein Betroffener sowie dessen Familie mit den Umständen der Erkrankung auseinander, hat dies ein erhebliches Potential, die Struktur der Familie zu erhalten und miteinander die Phasen der Erkrankung zu bewältigen. Leider gelingt dies nicht in allen Fällen, denn zum Krankheitsbild bzw. dessen Verarbeitung gehören bei Betroffenen und Angehörigen nicht selten Verleugnung und Nicht-wahrhaben-wollen. Betroffene nehmen diese Symptome gerade in der Frühphase sehr unterschiedlich wahr, wobei oft eine Neigung zur Verdrängung bzw. Ablehnung besteht. Angst ist hier ein zentrales Thema.

 

4. Verarbeitung der Diagnose

 

Zur erfolgreichen Verarbeitung einer schweren Erkrankung gehören beim Betroffenen und dessen Familie eine Reihe von Prozessen bzw. Phasen, die wie folgt beschrieben werden können.

 

4.1 Phasen der Veränderung aus Sicht eines Betroffenen

 

Phase 1: Schock - Verleugnung ('Nicht-wahrhaben-wollen')

Die Konfrontation mit der Diagnose einer solch schweren Erkrankung führt häufig zu einem "Sturz aus der Wirklichkeit", zu einem Schock, zu Unruhe und Angst. Es wird einem der sprichwörtliche Boden unter den Füßen weggezogen. Nicht selten wird versucht, die Bedrohung durch die Diagnose mittels Verleugnung zu reduzieren. Dieses "Nicht-wahrhaben-wollen" hat den Vorteil, dass der Betroffene die Tatsache der Diagnose nach und nach annehmen kann. Es kann aber auch dazu kommen, dass Gedanken einer Fehldiagnose oder Verwechslung bis hin zur Verzögerung oder sogar Verweigerung der notwendigen Behandlung vorkommen. In dieser Phase brauchen die Betroffenen vor allem menschliche Wärme, Verständnis und Verlässlichkeit in menschlichen Beziehungen.

 

Phase 2: Aggression – Zorn – Wut

Die Frage: "Warum gerade ich?" ist in dieser Phase wesentlich und löst bei den Betroffenen Gefühle der Wut, Betroffenheit und Kränkung aus; sie hadern mit Gott und der Welt. Oft kommen diese Wut und Aggression (die eigentlich der Krankheit gilt) nicht offen zur Sprache, sie werden vielmehr unbewusst an die Familie weitergegeben, was sich dann in Form von Vorwürfen und Kritik – sogar beleidigend – äußern kann. Der Betroffene braucht jetzt trotz seines ablehnenden Verhaltens Geduld und ein kontinuierliches, aufrechterhaltendes Kommunikationsangebot.

 

Phase 3: Depression

Durch die mit der Erkrankung verbundenen, zunehmenden Funktionseinschränkungen, Rollenverluste (z. B. als Familienversorger), durch Veränderung des Körperbildes und der kognitiven Leistungsfähigkeit etc. kommt es zu einem Einbruch des Selbstwertgefühls. Viele Betroffene stellen sich die Frage: "Was bin ich eigentlich noch wert?".

 

Verzweiflung und persönliche Verletzlichkeit nehmen zu. Der Betroffene scheint ständig Hilfe zu fordern, ist aber nicht in der Lage, sie auch anzunehmen. Dieses Verhalten stellt für die unmittelbare Umgebung des Betroffenen eine große Herausforderung dar, da es gerade jetzt einer beständigen und aufrechterhaltenden Beziehung bedarf. Dem Betroffenen kann dadurch vermittelt werden, dass sein sozialer Rückzug und seine depressive Stimmung als normale Reaktionen auf die Erkrankung verstanden und akzeptiert werden.

 

Phase 4: Verhandeln mit dem Schicksal

Nun versucht der Betroffene, durch das Erbringen von Opfern (Hinwendung zu zweifelhaften Behandlungsmethoden oder Aufbringen großer Geldsummen dafür) einen "Handel mit dem Schicksal" zu schließen und dieses Schicksal dadurch hinauszuzögern oder abzuwenden. Auch Gebete zu Gott, sich zu bessern, wenn das Schicksal sich zum Guten kehrt, und dann regelmäßig zu beten und die Kirche zu besuchen finden sich als eine Art direkte Verhandlungsversuche. Insbesondere wenn sich schwerstkranke Menschen am Glauben an alternative Heilmethoden aufreiben und finanziell ruinieren ist psychologische Beratung durch geschultes Fachpersonal besonders wichtig.

 

Phase 5: Akzeptanz und Annehmen

Der Betroffene nimmt seine Erkrankung an. Neue Rollendefinitionen werden gefunden und der neue Platz im Leben wird gefunden. Das Erreichen dieser Phase ist der entscheidende Punkt, jedoch keineswegs selbstverständlich, und sie wird nicht immer erreicht.

 

4.2. Unterschiedliche Bewältigungsstrategien

 

Der zeitliche Verlauf der Bewältigung der Diagnose / Erkrankung sowie die Wichtigkeit und Dauer der einzelnen Phasen sind eng an die Persönlichkeit des Erkrankten, seine Erfahrungen im Umgang mit Krisen, seine Erwartungen und an sein soziales Umfeld gebunden. Sie prägen entscheidend den Bewältigungsstil. Die Aufgabe aller Beteiligten ist es einerseits, die Betroffenen in ihrer individuellen Krankheitsbewältigung zu unterstützen und gemeinsam Strategien zur erfolgreichen Bewältigung zu erarbeiten. Anderseits gilt es, persönliche Ressourcen zu erschließen, wieder zu aktivieren, aufzubauen, neu zu entwickeln, denn von den eigenen Ressourcen hängt im Wesentlichen die Lebensqualität ab.

 

Das Wissen darüber, wie die Erkrankung sich im alltäglichen Leben bemerkbar macht und was nutzt oder schadet, hilft, kreative Lösungen zu finden und aktiv etwas für sich zu tun. Am besten gelingt dies jenen Menschen, die sich nicht auf die Einschränkungen, sondern auf ihre vorhandenen Fähigkeiten konzentrieren und ihr Bild des Lebens ändern. Diese Phasen zur Verarbeitung der Diagnose bzw. zur Akzeptanz der Erkrankung sind kein statisches Gebilde. Sie können unterschiedlich lange dauern, wechseln und wiederkehren. Auch kann es sein, dass man in einer der Phasen festzustecken scheint.

 

5. Die Rolle innerhalb der Familie

 

Mit fortschreitender Erkrankung ändern sich zwangsläufig die Rollen innerhalb der Familie. Männer, deren Frau von der Huntington-Krankheit betroffen ist, übernehmen zunehmend Aufgaben wie die Versorgung der Familie, Entscheidungen allein treffen, Kindererziehung etc. Frauen sind, sofern deren Ehepartner betroffen ist, schneller gefordert, dessen Rolle zu übernehmen, denn wenn der Vater als Hauptverdiener der Familie nach und nach ausfällt, muss zwangsläufig eher gehandelt werden. Auch Kinder oder Jugendliche müssen dann oftmals frühzeitig lernen, Verantwortung für den erkrankten Elternteil zu übernehmen.

 

Rollentausch bzw. Übernahme der Rolle geschieht mit unterschiedlichen Konsequenzen. So kann es zu einer übertriebenen Fürsorge oder genau entgegengesetzt zu einer Vernachlässigung der Bedürfnisse des Betroffenen kommen. Auch ein Ausschluss des erkrankten Familienmitgliedes kann geschehen, indem man dessen Aufgaben und Zuständigkeiten einfach so und zum Teil aus Nichtwissen zu früh übernimmt. Die Gefahr besteht auch darin, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche hintenanzustellen und immer wieder denen des Betroffenen oder der übrigen Familienmitglieder nachzugeben.

 

5.1. Kinder in Huntington-Familien

 

Die Huntington-Krankheit wirkt sich insbesondere bei den Kindern einer Familie auf deren psychische und soziale Entwicklung aus. Gerade wenn Kinder und heranwachsende Jugendliche Aufgaben der Versorgung übernehmen und die Folgen der Erkrankung direkt miterleben müssen, sind die möglichen Auswirkungen auf diese Dinge nicht weit weg. Kommt es erschwerend zu Auseinandersetzungen und mangelt es an entsprechender Aufklärung der Kinder, sind Konzentrations- und Lernstörungen, regressive Symptome wie Daumenlutschen, nächtliches Einnässen etc., übersteigertes aggressives Verhalten und Wut auf den erkrankten Elternteil, sich selber oder auf die gesamte Lebensqualität bis hin zu Resignation und Verwahrlosung möglich.

 

Die Eltern bzw. der gesunde Elternteil ist dabei neben den anderen Angehörigen ein Vorbild für die Kinder. Ein offener Umgang mit dem Thema, ohne dabei die Kinder zu bedrängen, jedoch mit dem eigenen Vorleben, dass die Krankheit gegenwärtig ist und dass man mit ihr umzugehen lernen kann ist von entscheidender Wichtigkeit für ein stabiles Umfeld, trotz der ohnehin schon widrigen Gesamtumstände. Der vermeintliche Schutzgedanke vieler Eltern, den Kindern das leidige Thema und die Belastung zu ersparen, ist aus der Erfahrung heraus ein Trugschluss.

 

5.2. Auswirkungen der Erkrankung selbst

 

Wir wissen, dass neben der erfolgreichen Verarbeitung der Erkrankung auch Faktoren des Krankheitsbildes selbst beteiligt sind, die dazu führen, dass es zu innerfamiliären Problemen und Auseinandersetzungen kommt.

 

Insbesondere die emotionalen Veränderungen des Betroffenen, die normalen Auswirkungen der Erkrankung auf Denken, Handeln und Problemlösungsfähigkeit, aber auch die psychischen Auswirkungen stellen hohe Anforderungen an die Person und seine Familie. Gerade durch das enge Band der Familie kommt es häufig dazu, dass in erster Linie die unmittelbaren Angehörigen die Auswirkungen zu spüren bekommen. Die Umwelt und weitere Angehörige bekommen am Anfang oft überhaupt nichts davon mit.

 

6. Die gesamte Familie eines Betroffenen

 

Erweitern wir unseren Blick auf weitere Angehörige einer Familie, wird das Gebilde, obwohl in manchen Fällen an sich schon schwer zu ertragen, wesentlich komplexer. Die Strukturen einer Familie und deren Interaktionen sind völlig unterschiedlich. Sie können daher im Falle einer Huntington-Erkrankung noch komplizierter werden, jedoch auch hilfreicher, wenn eine Familie zusammenhält.

 

Die Huntington-Erkrankung, ist sie einmal innerhalb einer Familie diagnostiziert, wirft bei jedem Einzelnen zahlreiche Fragen auf. Bin ich auch betroffen? Woher kommt die Erkrankung? Warum ist uns nichts darüber bekannt gewesen bzw. warum wurde uns nichts über die Erkrankung innerhalb der Familie erzählt? Schnell können sich Fragen, Vorwürfe und Misstrauen bilden und eine ganze Familie spalten. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Familie von der Erkrankung wusste, jedoch nie gelernt hat, damit umzugehen. Ein offener Umgang ist historisch gesehen nicht möglich gewesen. Die Generation aus dem Kriegsgeschehen heraus war zum Schweigen verdammt. Deren Kinder haben somit überhaupt nicht vorgelebt bekommen, einen offenen Umgang mit der Erkrankung zu leben. Dazu kommt, dass das Krankheitsbild seit eh und je nicht bekannt ist und immer noch in vielen Familien falsche Informationen und eine gewisse Unkenntnis vorherrschen.

 

Weitere Gründe können in der eigenen Angst liegen. Angst der Eltern, ihren Kindern diese schwere Nachricht zu überbringen. Allzu oft ist es geschehen, dass Eltern ihren Kindern die Botschaft nicht zu unpassenden Zeiten überbringen wollen: Kindheit (ein Kind soll seine Kindheit genießen dürfen), Pubertät (ein Kind in der Pubertät ist eh schon genug mit sich selbst beschäftigt), Schule (das Kind muss sich auf die Schule konzentrieren), Ausbildung oder Studium (das Kind steht vor wichtigen Prüfungen). So gehen die Jahre ins Land und bei den Eltern überwiegt allmählich das Bewusstsein, dass sie mit dem Zurückhalten der Tatsachen gut gefahren seien.

 

Es kommt jedoch auch vor, dass eine Familie von der Erkrankung nichts weiß, weil offensichtlich niemand betroffen ist, und dass aus heiterem Himmel plötzlich eine Diagnose getroffen wird, die viele Menschen belasten kann oder wird. Neumutationen der Huntington-Krankheit treten sehr selten auf und sind auf die Instabilität der genetischen Mutation zurückzuführen, d.h. eine Person hat selbst die genetische Mutation im sogenannten Graubereich und ist selbst davon nicht betroffen. Bei den Nachkommen kann sich die genetische Mutation verändern und in dem Bereich liegen, der die Krankheit ausbrechen lässt. Bei Neumutationen gibt es immer Einen, der zuerst betroffen ist und entsprechend beginnt die Suche nach weiteren möglichen Betroffenen. Hier kommt demjenigen, der die anderen informiert, eine besondere Rolle zu. Er sollte gut über die Krankheit informiert sein und diese Information sowie Unterstützung anbieten, aber nicht aufdrängen. Jeder hat ein Recht auf Nicht-Wissen und ein Schutzschild, insbesondere, wenn er noch nicht so weit ist, diese Nachricht zu verarbeiten.

 

6.1 Miteinander Reden

 

Ein sehr großes und leider auch weit verbreitetes Problem ist der nicht offene Umgang und das Schweigen über die Erkrankung innerhalb einer Familie.

 

Wie bereits eingangs erwähnt, ist bei kaum einer anderen Erbkrankheit ein solch ausgeprägtes Stillschweigen, auch gegenüber anderen Angehörigen, gegenständlich. Nicht jedem Menschen liegt es, sich gegenüber anderen Personen offen über seine persönlichen Gedanken und Ängste zu äußern. Erst recht gegenüber der Verwandtschaft, mit denen man ggf. nicht sehr engen oder gar intensiven Kontakt pflegt. Ein weiterer verständlicher Aspekt ist auch hier, dass sich Menschen nicht gern mit den negativen Punkten im Leben beschäftigen möchten, erst recht, wenn es möglicherweise das eigene Schicksal oder das eines lieben Familienangehörigen betrifft.

 

Schweigen, nicht darüber reden wollen oder sich nicht mit dem Krankheitsbild beschäftigen, sind jedoch nur einige von vielen möglichen Konfliktpotentialen. Weglaufen kann man weder vor der Zukunft noch vor einer Erkrankung wie der Huntington-Krankheit, denn sie holt einen irgendwann wieder ein. Wir wissen, dass Kenntnis über die Erkrankung und deren Auswirkungen auf den Betroffenen sowie das gesamte Umfeld existentiell wichtig sind, um sich der bevorstehenden Aufgabe zu stellen und ein Leben mit einer solch schweren Erkrankung meistern zu können. Mit den Veränderungen umgehen, diese erkennen, richtig zuordnen und verstehen bedarf der intensiven Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild.

 

Geschieht das nicht, sondern verkriechen sich die Lieben der Familien, bestehen ebenfalls wieder Gefahren für Konflikte und Missverständnisse. Nicht selten sind darum aus der Situation heraus außergewöhnliche Gedanken, Äußerungen oder Vorhaben für jemanden, der nicht im Thema steht, völlig unverständlich. Man darf daher in Bezug auf Verständnis für bestimmte Aktionen und Interaktionen nicht immer hoffen, verstanden oder respektiert zu werden. Wissen nämlich die Mitglieder einer Familie nicht, was die Huntington-Krankheit mit sich bringen kann und welche teils unkonventionellen Wege man damit beschreiten muss, können sie sich auch nicht darauf einstellen oder angemessen mit bestimmten Situationen und Gefühlen umgehen.

 

Doch gerade der offene und ehrliche Umgang innerhalb einer Familie ermöglicht allen, einander zu verstehen. Insofern bildet er die Grundlage für ein vertrautes Verhältnis und gegenseitige Unterstützung, die mit der Huntington-Krankheit im Nacken so wichtig ist. Wird man sich bewusst, wie viele Menschen allein sind und sich nicht auf die Blutsverwandten verlassen können, weiß man erst, wie hart die Erkrankung mit dem Schicksal spielen kann.

 

6.2 Das soziale Umfeld und die Familie

 

Nicht nur die Beziehung innerhalb der eigenen Familie, sondern darüber hinaus auch die des gesamten privaten und beruflichen Umfeldes ändert sich im Verlauf der Erkrankung. Irgendwann ist der Betroffene z. B. nicht mehr zur Ausübung des Berufs in der Lage und es kommt zu einer freiwilligen oder unfreiwilligen Aufgabe der beruflichen Tätigkeit. Das stellt neben den eh schon schweren psychologischen Folgen für den Betroffenen eine weitere Belastung der Familie dar. Es kommt einem gesellschaftlichen Abstieg gleich und ist nicht selten gefolgt davon, dass sich Betroffene weiter zurückziehen – auch von der eigenen Familie.

 

Akzeptieren zu können, dass man manche Dinge nicht mehr so zu leisten im Stande ist wie vorher, ist schon schwer genug und gelingt nicht jedem. So finden sich auch in der Akzeptanz der gesellschaftlichen und sozialen Einbußen sehr oft Verdrängung und Verleugnung. Nicht selten resultieren aus diesen Gründen auch Handlungen, die für andere ersichtlich werden lassen, dass es handfeste Probleme im Alltag gibt.

 

Zu nennen wäre hier Führen eines KFZ im Straßenverkehr, obwohl kleinere Blechschäden oder Hinweise von Dritten auf das Fahrverhalten an der Tagesordnung sind. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Unverständnis für die Verhaltensweisen des Betroffenen sowie die weit verbreitete Unkenntnis der Huntington-Krankheit immer weiter zur sozialen Isolation führen können. Das betrifft nicht nur den Rückzug der nahen und entfernten Verwandten und Freunde, sondern zugleich auch der eigenen Familie. Nicht selten zerbrechen Ehen, weil die Partner mit dem zunehmenden Abbau nicht zurechtkommen oder sie die Kinder vor den Auswirkungen schützen möchten. Derartige Einschnitte und Erlebnisse sind verständlicherweise für die Betroffenen eine Katastrophe, die mit Suizidversuchen enden kann.

 

Für die Familie sind solche Schreckensszenarien und Vorstellungen ebenfalls schwer zu ertragen und sie stellen eine erhebliche Belastung für eine ganze Familie dar. Bedenkt man das oft verbreitete Schweigen bei immer offensichtlicher werdenden Tatsachen, ist es leicht verständlich, wie die Belastung sich in jeden Teil der Familie tragen kann. Die Huntington-Krankheit fordert auf diese Weise viele direkt oder indirekt Betroffene, denn über die Auswirkungen bei einem Familienmitglied hinaus müssen auch andere Familienmitglieder in der Angst leben, möglicherweise selber von der Erkrankung betroffen zu sein.

 

7. Fazit

 

So lautet der Appell an alle: sich zu informieren und im Kreis der Familie offen und ehrlich miteinander zu reden. Gemeinsam statt einsam spart nicht nur viele Nerven, sondern stützt auch jedes Glied einer dann hoffentlich starken Gemeinschaft. Die gute physische und psychische Verfassung eines jeden ist wichtig, um den Betroffenen, seine direkten Familienmitglieder und sich selbst zu stützen.

 

8. Weiterführende Informationen

 

- Zum Huntington-Ratgeber - dem kostenlosen Handbuch für den Umgang mit der Huntington-Krankheit - klicken Sie hier auf RATGEBER

- Zur Übersicht und Erreichbarkeit der nationalen und internationalen Huntington-Selbsthilfeorganisationen klicken Sie hier auf SELBSTHILFE

- Zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in einer Familie klicken Sie hier auf TOD

- Zu den Huntington-Zentren und -Ambulanzen in Deutschland, Österreich und der Schweiz klicken Sie HIER.

 

 

9. Feedback

 

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Die Infoblätter  sind keine Quelle für medizinische, juristische oder  finanzielle Ratschläge.                                                     

 

 

Übernahme dieses Beitrags mit freundlicher Genehmigung des Autors Christian Gerken (Deutsche Huntington-Hilfe, Februar 2015)