1. Einleitung
Bewegung ist des Menschen wichtigste Medizin. Diese Erkenntnis der alten Griechen (Hippokrates) gilt prinzipiell für jeden von uns, in besonderem Maße aber für Personen, die das Risiko einer Krankheit in sich tragen oder bereits von ihr betroffen sind. Bewegungstherapie ist daher eine wichtige Säule der Behandlung von Huntington-Patienten. Sie kann individuell auf die Bedürfnisse des jeweiligen Patienten zugeschnitten und sollte bereits kurz nach der Diagnose und noch in der Frühphase der Erkrankung begonnen werden. Gerade in dieser Phase sind die übenden Verfahren wichtig, um die körperliche Funktionsfähigkeit so lange wie möglich zu erhalten und auf diese Weise die Lebensqualität der Betroffenen über den gesamten Verlauf der Krankheit zu verbessern. Darüber hinaus ist es ratsam, einen frühen Therapiebeginn zu nutzen, weil zu diesem Zeitpunkt die krankheitsbedingten Einschränkungen noch gering sind und die Patienten noch gut lernen und selbstständig üben können. Viele Bewegungen kann man sich von einer Fachkraft zeigen lassen und daheim regelmäßig weiter ausüben. Das vorliegende Infoblatt soll dazu als Anregung dienen.
2. Medizinischer Hintergrund
Bekanntlich ist das tatsächliche Einsetzen der Huntington-Symptome von Person zu Person verschieden. Spezielle Untersuchungen der Lebensgewohnheiten von Risikopersonen zeigen jedoch, dass ein passiver Lebensstil mit geringer Aktivität zu früherem Beginn der Krankheitssymptome führen kann. Diese Forschungsergebnisse stützen die Beobachtung, dass bei Menschen, die bereits in ihrer Jugend aktiv sind, das Ausbruchsalter hinausgezögert wird. Ganz allgemein bestätigt die moderne Medizin, dass sich mehr körperliche Aktivität für eine Reihe verschiedener Krankheiten als vorteilhaft erweist. Wie jeder weiß, gilt dies insbesondere für den Stoffwechsel, der sich durch Untätigkeit und langes Sitzen oder Liegen verlangsamt. Darüber hinaus ist Bewegung auch für das Gehirn vorteilhaft und sie kann bestimmte neurologische und psychiatrische Störungen abschwächen. Kleine, regelmäßige Bewegungseinheiten reichen bereits aus, um den Gesundheitszustand zu verbessern. Alle Aktivitäten, bei denen der Kreislauf in Schwung kommt und sich die Atemfrequenz erhöht, sind geeignet.
Ziel muss es sein, Funktionsstörungen und Fehlentwicklungen des Körpers hinauszuzögern. Zu Beginn geht es vorzugsweise um die Fähigkeit, sich selbstständig fortbewegen zu können. Schwerpunkt ist demnach anfangs die Verbesserung von Stand, Gang und Körperhaltung sowie die Regulierung der Muskelspannung. Später verlagern sich die Bemühungen auf Kontrolle der Arme und Hände (Greifvermögen), der Gesichts- und Mundmuskulatur und der Atmung. Insgesamt regt regelmäßiges Training der Muskeln den Kreislauf an, erhält und erweitert körperliche Fähigkeiten, hält den Bewegungsapparat gelenkig, die Balance sicherer, die Muskeln kräftig, stimuliert die Atmung, dient der Abwechslung, steigert den Appetit und fördert insgesamt das Wohlbefinden.
3. Übungen
Im Folgenden ist eine kleine Auswahl einfacher Übungen aufgelistet, die man teils in Fortbewegung, teils im Stehen,
Sitzen oder Liegen (auch im Bett) ausführen kann. Sie sind als Anregung gedacht und können beliebig an die Bedürfnisse oder die Fähigkeiten des
Betroffenen angepasst werden. Den Angehörigen fällt dabei in dreierlei Hinsicht eine wichtige Rolle zu. Zum einen geht es darum, den Betroffenen zu motivieren und zu ermuntern, Bewegungsübungen
zu einem festen Bestandteil seines Tagesablaufs zu machen. Zum anderen sollten einige der Übungen aus Sicherheitsgründen mit Hilfestellung durchgeführt werden. Und schließlich, wenn der Patient
nicht mehr in der Lage sein sollte, aus eigener Kraft zu üben, kann ein Helfer ihn führen und bewegen. Und immer gilt: alle Übungen der eigenen Bewegungsgröße anpassen.
Gehen
Regelmäßiges Gehen, auch mit Stöcken (Nordic Walking), ist die einfachste und am wenigsten aufwendige Übung, um sich Beweglichkeit und Wohlbefinden zu erhalten. Es ist gut für Herz, Kreislauf und den gesamten Bewegungsapparat. Sogar für stärker betroffene Kranke ist das Gehen – gegebenenfalls mit entsprechender Unterstützung, um Stürze abzuwenden – eine hervorragende Therapie. Darüber hinaus dient es gerade bei Huntington-Patienten dazu, das Gleichgewicht zu trainieren und zu erhalten. Entfernung: so weit wie möglich, das heißt von wenigen Schritten im Zimmer bis hin zu mehreren Kilometern Spaziergang, je nach Kondition des Patienten. Achten sollte der Begleiter auf zweckmäßiges Schuhwerk mit festem Sitz, bequemem Fußbett und griffiger Sohle. Gut geeignet sind zum Beispiel Sport- oder Joggingschuhe.
Stufen steigen
Diese Übung ist deutlich schwieriger und anstrengender als ebenes Gehen, aber ungleich wirkungsvoller für den ganzen Körper mit Blick auf Herz, Kreislauf, Muskeln und Gelenke, inklusive Gleichgewicht. Die Anzahl der Stufen oder die Dauer des Steigens richten sich nach der Kondition des Patienten. Überlastung ist kaum möglich, wenn der Begleiter auf die Atemfrequenz achtet und die Übung beendet oder eine Pause einlegt, wenn der Patient (oder er selbst) zu schnaufen beginnt. Oberstes Gebot beim Steigen ist die Sicherheit, denn ein Sturz von einer Treppe kann fatale Folgen haben. Also: immer mit Partner gehen und immer müssen sich Beide am Geländer festhalten, denn einen Stolpernden auf einer Treppe aufzufangen, ohne festen Halt zu haben, ist kaum möglich!
Über Hindernis steigen
Wenn es in Haus oder Wohnung keine Stufen gibt, kann man sich behelfsmäßig einen ähnlichen Parcours aufbauen. Man verteilt verschiedene Gegenstände auf dem Boden und lässt den Betroffenen darübersteigen. Dies kräftigt die Beine und schult das Gleichgewicht. Sollte das Übersteigen zu schwierig sein, kann man stattdessen vorwärts, rückwärts und seitlich abwechselnd mit linkem und rechtem Bein Ausfallschritte machen. Auch hier gilt: ein Partner sollte zur Sicherheit Hilfestellung geben.
Schwimmen
Eine weitere hervorragende gesundheitsfördernde und -erhaltende Maßnahme ist Schwimmen. Es trainiert den ganzen Körper, ohne dass man sein Gewicht tragen muss. Wer dies aus verständlichen Gründen nicht in vollen Schwimmbädern ausüben möchte, sollte sich im Schwimmbad nach besonderen Zeiten für Behinderte erkundigen, wie sie von manchen Gemeinden angeboten werden. Im frühen Stadium der Huntington-Erkrankung dürfte das Schwimmen noch problemlos auszuüben sein. Wenn nach und nach die Muskeln weniger gehorchen, sind Schwimmhilfen angesagt. Zu Beginn dürften Schwimmflügel ausreichen, die es in Erwachsenengrößen gibt und die dem Schwimmer die notwendige Sicherheit verleihen. Später wird der Betroffene einen Schwimmreifen benötigen, der einen höheren Auftrieb besitzt als Flügel. Wichtig für die Auswahl der Schwimmhilfen ist es, dass der Patient mit ihrer Hilfe in eine stabile Schwimmlage kommt, das heißt, dass auf jeden Fall der Kopf zuverlässig über Wasser gehalten wird. Und auch beim Schwimmen gilt: nie ohne erfahrene Begleitung ins Wasser.
Fahrrad fahren
Wer vor Ausbruch der Krankheit gerne mit dem Fahrrad gefahren ist, möchte dies lange fortsetzen. Durch die einsetzenden Balanceprobleme ist dem bald ein Ende gesetzt. Die Möglichkeit zum selbstständigen Radfahren lässt sich noch eine Weile aufrechterhalten, wenn man zum Beispiel auf ein Fahrrad mit doppeltem Hinterrad umsteigt, vom Zweirad auf ein Dreirad. Dies gewährleistet die notwendige Stabilität. Wenn der Betroffene nicht mehr selbstständig am Straßenverkehr teilnehmen kann, dann bietet ein Tandem die Möglichkeit zum gemeinsamen Radfahren. Ein Tandem setzt jedoch ebenfalls eine gewisse Beherrschung der Balance voraus. Sollte diese nicht mehr gegeben sein, ist begeleitetes Fahren auf einem Fahrrad mit Doppelsitz möglich. Dabei handelt es sich um ein stabiles Dreirad mit zwei Sitzen nebeneinander, Doppellenker und Doppelpedalen. Als Sicherheitszubehör sind unter anderem Sicherheitsgurte, Fußschalen, Speichenschutz, Armlehnen und sogar ein Elektroantrieb lieferbar. Solche Spezialfahrräder sind individuell anpassbar, sicher und komfortabel, aber recht teuer. Es gibt sie im Fachhandel, in Sanitätshäusern und über das Internet.
Übungen im Stehen
Wenn mit Fortbewegung verbundene Übungen nicht mehr möglich sind, kann man es mit einigen einfachen Übungen im Stehen versuchen. Auch diese erhalten die Beweglichkeit, schulen das Gleichgewicht und kräftigen Rumpf, Arme und Beine. Dabei Musik zu hören kann Rhythmus, Geschwindigkeit und die Stimmung positiv beeinflussen. Folgende Übungen sind im Stehen möglich:
Übungen mehrfach wiederholen!
Übungen im Sitzen
Wenn das Stehen zunehmend Mühe bereitet oder nicht mehr möglich ist, lässt sich eine ganze Reihe von Übungen im Sitzen durchführen. Das bezüglich ihrer Wirkung zuvor über Übungen im Stehen Gesagte gilt auch für das Sitzen. Folgende Übungen sind im Sitzen möglich:
Übungen mehrfach wiederholen!
Übungen im Liegen
Wenn auch das Sitzen zunehmend Mühe bereitet oder nicht mehr möglich ist, lässt sich eine ganze Reihe von Übungen im Liegen (auf einer Matte oder im Bett) durchführen. Das zuvor über Übungen im Sitzen Gesagte gilt auch für das Liegen. Die folgenden Übungen sind für die Rückenlage gedacht:
Übungen mehrfach wiederholen!
Gesichtsgymnastik / Mundmotorik
Gegen das Erstarren des Gesichtsausdrucks, zugleich zum Training der Mundmuskulatur (Mundmotorik: kauen, schlucken, sprechen), helfen folgende Übungen:
Mit Hilfe eines Handspiegels kann der Betroffene seine Übungen kontrollieren.
Übungen zur Stärkung von Balance und Gleichgewicht
Mit diesen einfachen Übungen kann man nach kurzer Zeit das Sturzrisiko senken.
Alle Übungen drei- bis viermal pro Woche wiederholen und zur Sicherheit mit Hilfsperson ausführen.
Atemübungen
Wegen nachlassender Muskelleistung, mangelnder Bewegung oder schlechter Haltung lässt bei einem Huntington-Patienten in der Regel allmählich die Atemleistung nach. So kann sich in den Bronchien leicht Schleim ansammeln, das Abhusten wird schwieriger, allgemein wird die Sauerstoffversorgung ungenügend und die Gefahr ernsthafter Atemwegsentzündungen steigt. Atemübungen sollten daher zum Pflichtprogramm eines jeden Betroffenen gehören. Es beginnt damit, dass man bei einem Kranken auf gute Haltung vor allem im Sitzen und Stehen achtet, denn ein gekrümmt sitzender oder stehender Mensch kann seine Lungen nicht richtig mit Sauerstoff füllen.
Zwei einfache Übungen, die im Sitzen oder Liegen ausgeführt werden können, verbessern die Lungenfunktion: Spannungsatmung und Entspannungsatmung. Zur Ersteren atmet man tief durch die Nase ein, danach mit gespitzten Lippen kräftig durch den Mund aus, bis die Lunge leer ist. Die Stärke des Atems kann man leicht kontrollieren, indem man gegen ein Tuch bläst, welches in geeigneter Entfernung vor sich gehalten oder aufgehängt wird, sodass es sich bewegt. Zur Zweiten atmet man ebenfalls tief durch die Nase ein, diesmal langsam und ruhig durch den Mund aus. Beide Übungen sollte man ein paar Mal wiederholen, wenn nötig mehrmals am Tag. Wichtig ist, dass die Lunge ganz gefüllt und ganz geleert wird. Letztere Übung dient auch der Entspannung und Beruhigung, insbesondere, wenn man begleitend entsprechende Musik hört.
Sonstige Übungen
Wer die beschriebenen Übungen nicht mehr auszuüben vermag, sollte die negativen Folgen ständigen Liegens oder Sitzens – so weit es möglich ist – durch regelmäßiges Aufrichten oder Aufstehen ausgleichen. Neueste Forschungsergebnisse belegen, dass selbst solche einfachen Bewegungen, mit denen lediglich die Körperhaltung verändert wird, für einen funktionierenden Organismus wichtig sind und physiologischen Nutzen bringen.
4. Fazit
Zum Kampf gegen die Huntington-Krankheit gehört auch regelmäßige Bewegung. Sie schützt vor den Folgen, die von einem Tagesablauf ausgehen, der zum Großteil im Sitzen oder Liegen verbracht wird. Risikopersonen und von der Krankheit betroffene sollten daher so früh wie möglich und so lange wie möglich so aktiv wie möglich bleiben. Am Anfang mute man sich nicht zu viel zu, doch sollte man sich ruhig ein wenig anstrengen und standhaft bleiben, denn es geht darum, die Kontrolle über seinen Körper möglichst lange zu erhalten und die Krankheit erträglicher zu machen. Wenige Minuten Bewegung täglich können die Lebensqualität spürbar verbessern.
5. Weiterführende Information
- Zum Huntington-Ratgeber - dem kostenlosen Handbuch für den Umgang mit der Huntington-Krankheit - klicken Sie hier auf RATGEBER
- Literatur zum Thema Bewegungstherapie / Physiotherapie gibt es nur sehr spärlich. Wer mehr darüber erfahren möchte, sollte sich mit den dazu vom Europäischen Huntington-Netzwerk zusammengestellten Richtlinien für die klinische Physiotherapie befassen. Diese enthalten Ratschläge zur Physiotherapie und zu anderen Themen therapeutischer Pflege mit dem Ziel, die Qualität der Versorgung zu verbessern. Man kann die Broschüre beziehen über die Deutsche Huntington-Hilfe unter der Bestellnummer B027 gegen Erstattung der Versandkosten. Im Internet ist sie zu finden unter www.dhh-ev.de, Menüpunkt Service, Unterpunkt Literatur.
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Autor: Ekkehart Brückner Stand: Juli 2022